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Wetzikon
03.10.2024
03.10.2024 15:37 Uhr

«Ich lebte für die Medizin»

Schaut auf ein turbulentes Leben zurück: Jakob Gysel.
Schaut auf ein turbulentes Leben zurück: Jakob Gysel. Bild: zvg
Jakob Gysel kann auf ein sehr bewegtes Leben zurückblicken. Wir haben den ehemaligen Chefarzt des Spitals Wetzikon zum persönlichen Gespräch getroffen.

Guten Tag Jakob, wo bist du aufgewachsen und was hast du in deiner Jugend erlebt?

Ich bin am 5. Januar 1934 im Kantonsspital Schaffhausen geboren und in Wilchingen, nahe der deutschen Grenze, auf einem Bauernhof aufgewachsen. Meine Eltern betrieben Landwirtschaft und Rebbau. Als kleiner Junge erlebte ich den Zweiten Weltkrieg hautnah, oft beobachteten wir Angriffe der alliierten Luftwaffe. Für uns Kinder waren die Rucksäcke immer gepackt, falls wir hätten fliehen müssen. Nach Kriegsende verbrachte ich dort aber eine schöne Jugend zusammen mit meinen zwei Brüdern und meinen zwei Schwestern. Leider verstarben die Schwestern mit 13 respektive 15 Jahren beide viel zu früh.

Hast du dich auch deshalb für die Medizin entschieden?

Gut möglich, dass dieser tragische Umstand in mir das Bedürfnis weckte, einen Beruf auszuüben, bei dem ich Menschen helfen konnte. Die Mithilfe von uns Kindern auf dem Hof war damals üblich und nötig. Dass ich als Bauernsohn jedoch studieren durfte, war alles andere als üblich. Umso grösser war die Freude meiner Familie, als ich 1960 das Staatsexamen bestand. Ich habe mich in der Folge an verschiedenen Stellen weitergebildet, z. B. am Universitätsspital Zürch, am Kinderspital Zürich und am Spital Baden.

Wie ging es beruflich weiter?

An der Universitäts-Frauenklinik Zürich war ich ein Jahr als Anästhesist tätig. Drei Jahre nach Abschluss meiner Ausbildung folgte der Hilferuf eines guten Freundes, der als Chirurg im Spital Nazareth in Palästina arbeitete. Mir wurde die Frauenklinik übertragen und ich erlebte in einem Jahr über 7000 Geburten. Lange Arbeitstage und -nächte gehörten zu jener Zeit. Bereits damals waren viele tausend Flüchtlinge unterwegs und die politische Situation war sehr kontrovers. Ich habe dort in beruflicher, menschlicher und kultureller Hinsicht nochmals viel dazugelernt. Diese Zeit hat mich geprägt und war für meinen weiteren Werdegang aus- schlaggebend. Auf der Heimreise besuchten wir verschiedene Missionsspitäler in vier afrikanischen Staaten.

Was geschah nach deiner Rückkehr in die Schweiz?

Als ich Ende 1965 zurückkehrte, lernte ich während einer Arztvertretung in Baden meine erste Frau Lotti kennen. Wir gründeten eine Familie und haben fünf gemeinsame Kinder. In Baden habe ich mein Wissen vertieft und die Ausbildung zum Oberarzt und zum Facharzt Geburtshilfe/Gynäkologie absolviert. In dieser Zeit musste ich auch den Hauptmannsgrad abverdienen, und dies bei der Kavallerie. Es folgte eine unvergessliche Zeit – ab 1966 war ich im Auftrag des Internationalen Roten Kreuzes als Arzt in Vietnam.

Werden da Erinnerungen wach?

Es tobte der Krieg, und ich half in einem Provinzspital in Kontum im Norden als Militär-Anästhesist. Mutiges Handeln bei mangelhafter Infrastruktur war gefragt. Dies eröffnete mir aber auch neue Erkenntnisse in der Medizin. Zustände, wie ich sie dort vorgefunden habe, sind in unserer westlichen Welt eigentlich unvorstellbar. Das Land war vermint und fast täglich wurden Minenverletzte eingeliefert. Ein für mich prägendes Erlebnis mit zugleich schönem Ausgang war die Rettung einer jungen, hochschwangeren Vietnamesin. Die Frau wurde nachts angeschossen und erlitt einen Einschuss in ihren grossen Bauch, die Kugel trat jedoch nicht aus. Es galt, bei schlechten Lichtverhältnissen die Bauchhöhle zu revidieren und die verletzte Gebärmutter zu verschliessen. Da kein Blut zur Verfügung stand und wir nicht wussten, wie weit fortgeschritten die Schwangerschaft war, entschlossen wir uns, nur die Wunde zu versorgen, was recht gut gelang. Die Frau wurde auf die Pflegestation gebracht und mit Infusionen und Antibiotika versorgt. Zwei Tage nach der Operation gebar die Frau einen lebensfähigen, mageren Knaben mit einer Kugel im Körper, knapp über seinem rechten Schulterblatt. Ich konnte sie entfernen und die Wunde mit wenigen Stichen verschliessen. Nach wenigen Wochen konnten wir die Mutter und das Baby aus dem Spital entlassen.

Wie ging es nach deiner erneuten Heimkehr weiter?

1972 wurde ich zum Chefarzt im Spital Wetzikon gewählt und ich begann meine Arbeit im August 1973. Im Dezember 1975 bezogen wir unser eigenes Haus an der Eggstrasse in Wetzikon. Rund 23 Jahre war ich im Spital tätig. Du warst lange Chefarzt im Spital Wetzikon. Wie bewertest du die aktuelle Situation des GZO? Dass es so weit kommen konnte, ist für mich unverständlich und grob fahrlässig. Der Verwaltungsrat hat einen schlechten Job gemacht. Natürlich beschäftigt mich die aktuelle Situation. Wetzikon braucht ein Spital. Es müssen Synergien mit anderen Spitälern gesucht werden. Die Fusion mit Uster unter einer Verwaltung ist dringend. Das Einzugsgebiet im Zürcher Oberland ist riesig und wird sich rasant entwickeln. Ich habe die Hoffnung, dass unter der neuen Leitung mit Hansjörg Herren gute Entscheidungen getroffen werden.

«Zustände, wie ich sie dort vorgefunden habe, sind in unserer westlichen Welt eigentlich unvorstellbar.»
Jakob Gysel

Was erfreut dich im Leben?

Unsere Familie mit fünf lieben, erfolgreichen Kindern und deren Familien. Der liebenswürdige und humorvolle Umgang bei Familientreffen bereitet mir immer Freude. In zweiter Ehe bin ich mit Ruth Brandenberger glücklich verheiratet. Während fünfzig Jahren im SAC durfte ich die herrliche Bergwelt kennenlernen, inklusive Matterhorn und Kilimandscharo. Auch verbrachte ich viele Stunden auf dem Rücken unseres Pferdes.

Was wünschst du dir für die Zukunft von Wetzikon?

Eine langsamere Entwicklung, damit die Verwaltung nicht den Anschluss verliert. Ich wünschte mir ein anderes Stadtbild, diese «Wohnkasernen» passen nicht in diese Stadt. Aber noch immer gefällt es uns sehr hier im Oberland.

Andreas Wolfensberger