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Bildung
11.04.2025
09.04.2025 17:20 Uhr

Lernstube Wetzikon: «Die vielen Erfolgsgeschichten sind grossartig»

Die Lernstube findet in ungezwungener Atmosphäre im Café SAM an der Motorenstrasse 36 statt.
Die Lernstube findet in ungezwungener Atmosphäre im Café SAM an der Motorenstrasse 36 statt. Bild: my-photo.ch
In der Schweiz leben über eine Million Menschen mit Defiziten in den elementaren Grundkompetenzen wie Lesen, Schreiben oder Rechnen. Und das sind längst nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund. Die Lernstuben im Kanton Zürich haben zum Ziel, Menschen in ihren Grundkompetenzen zu stärken. Eine der derzeit sieben Lernstuben befindet sich in Wetzikon.

Die Lernstube ist ein niederschwelliges und kostenloses Angebot des kantonalen Mittelschul- und Bildungsamts zur Förderung der Grundkompetenzen. Darunter versteht man Lesen und Schreiben, Rechnen, sich Bewerben sowie das Bedienen von Computer und Handy.

Betrieben werden die derzeit sieben Lernstuben im Kanton Zürich von eigenständigen Organisationen. In Wetzikon betreibt die Stiftung Ancora-Meilestei seit 2022 die Lernstube im Café SAM. Im Gespräch erzählt die Lernstuben-Leiterin Karin Züger mehr darüber und erklärt, warum das Angebot so wichtig ist.

Was wird in der Lernstube angeboten?

Karin Züger: Die Angebote umfassen die Bereiche Computer und Handy, Lesen und Schreiben, Bewerbungsunterstützung, Gemeinsames Lesen in Zusammenarbeit mit der Regionalbibliothek Wetzikon und auch individuelle Beratungen. Darüber hinaus organisieren wir einige Male im Jahr Workshops zu verschiedenen Themen.

An wen richtet sich die Lernstube?

Das Angebot richtet sich an alle Bewohnerinnen und Bewohner des Kantons Zürich ab 18 Jahren mit Deutschkenntnissen ab Niveau B1. Bis auf die Bewerbungsunterstützung können alle Angebote ohne Anmeldung genutzt werden. Ausserdem organisieren wir für alle Angebote einen Kinderhütedienst. Wichtig zu sagen ist, dass der Besuch in der Lernstube nicht mit einem Deutschkurs zu vergleichen ist, sondern sich insbesondere auch an Personen richtet, die in der Schweiz die Schule absolviert haben.

Warum braucht es die Lernstube?

Man weiss, dass etwa 15 Prozent der Schweizer Bevölkerung Mühe mit einer der erwähnten Kompetenzen haben – oder mit mehreren davon. Die persönlichen, wirtschaftlichen und finanziellen Auswirkungen sind teils immens. Personen fallen durch alle Raster, weil sie nicht mehr klarkommen mit den an sie gestellten Anforderungen, sei es im Beruf oder im Alltag.

Oft wird ein Manko zudem erst in einer bestimmten Lebensphase zum Problem, wenn verschiedene Belastungen zusammenkommen wie Jobverlust, neue Aufgaben im Job, kleine Kinder, Trennungen. Der Druck wird gross, wenn man merkt, dass man den Anschluss in einem Gebiet verpasst hat oder zu verpassen droht.

Von wem wird das Angebot genutzt?

Die Palette der Besuchenden ist breit gefächert, von 18- bis über 90-Jährigen. Von Leuten ohne abgeschlossene Ausbildung bis zu Personen mit Hochschulabschluss.

Definieren Sie die Angebote selbst?

Nein, die Angebote und Inhalte wie auch die Öffnungszeiten sind vom Kanton vorgegeben. Je nach Nutzung können wir die Angebote aber ausbauen oder anpassen. In der Lernstube Wetzikon konnten wir dieses Jahr das Angebot der Bewerbungsunterstützung verdoppeln und eine zusätzliche Kinderbetreuerin einsetzen aufgrund der hohen Nachfrage.

Haben die Menschen Hemmungen, vorbeizukommen?

Ja. Viele sagen uns, dass sie Mut benötigten, überhaupt vorbeizukommen. Und dass sie lange gewartet haben, obwohl sie wussten, dass es uns gibt. Wenn sie uns dann aber kennengelernt haben, sagen viele, dass sie früher gekommen wären, wenn sie gewusst hätten, wie hilfreich und unterstützend das Angebot ist. Auch denken viele, dass sie mit ihrem Problem allein seien. Wenn sie in den Pausen andere kennen lernen, merken sie, dass sie ganz und gar nicht allein sind mit ihren Anliegen. Bereits das ist ein grosser «Gamechanger» und nimmt ihnen viel Last von den Schultern.

Wie sind die Lernstuben organisiert?

Die Lernstuben werden von verschiedenen Trägerorganisationen geführt, die eine Leistungsvereinbarung mit dem Kanton haben. In Wetzikon hat die Stiftung Ancora-Meilestei die Trägerschaft der Lernstube. Ancora-Meilestei wiederum arbeitet mit regionalen Anbietern zusammen, zum Beispiel mit der Bildungsorganisation Akrotea.ch in Rüti. Die Kinderbetreuerinnen kommen vom Familienzentrum FiZ Wetzikon zu uns.

«Viele denken, dass sie mit ihrem Problem allein sind. Doch das sind sie nicht.»
Karin Züger

Wer trägt die Kosten?

Seit diesem Jahr ist die Lernstube umfassend vom Kanton finanziert. In der Pilotphase von 2022 bis 2024 hatte der Kanton maximal drei Viertel der Kosten übernommen. Ancora-Meilestei trug die verbleibenden Kosten. 

Wer arbeitet alles mit?

Als Lernstuben-Leiterin bin ich, zusammen mit meinem Vorgesetzten Leo Nissen, Leiter der Fachstelle Sozialdienst von Ancora-Meilestei, für die Lernstube Wetzikon zuständig. Hinzu kommen je eine Lernbegleitung für Lesen und Schreiben sowie für Computer und Handy, ein Bewerbungscoach und die Kinderbetreuerinnen. Dies sind die bezahlten Stellen.

Wir könnten unser Angebot aber nicht umsetzen ohne Freiwillige. Im letzten Jahr waren es 14 Personen. Sie alle sind ein wichtiger Teil der Lernstubenfamilie Wetzikon. Aktuell suchen wir Freiwillige für die Bewerbungsunterstützung und die Lesegruppe. Interessierte können sich gerne bei mir melden: karin.zueger@ancora-meilestei.ch oder Telefon 079 368 85 72.

Was begeistert Sie persönlich?

Wir durften bereits viele persönliche Erfolgsgeschichten miterleben. Für diverse Besuchende haben sich beruflich oder privat neue Perspektiven eröffnet. Besonders gefreut haben mich Jobzusagen an Personen mit speziellen Bedürfnissen. Ich bin stolz auf die gelebte Kultur, die wir gemeinsam als Team hinbekommen haben. Mit Humor, guter Laune, Optimismus und vorgelebter gegenseitiger Unterstützung ermöglichen wir individuelle Weiterentwicklung, ohne einander zu bewerten oder zu vergleichen.

www.cafesam.ch/lernstube | www.lernstuben.ch | www.ancora-meilestei.ch

Zur Person

Karin Züger ist seit über 20 Jahren im Feld der soziokulturellen Animation mit der Schnittstelle zur Bildung tätig. Die 52-Jährige ist soziokulturelle Animatorin FH, Ausbildnerin mit eidg. FA und Bewegungspädagogin.

Barbara Tudor