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Grüningen
23.11.2023
26.11.2023 15:08 Uhr

«Die Kirche ist in einer Identitätskrise»

Markus Kreienbühl präsidiert die Kirchenpflege der Reformierten Kirche Grüningen.
Markus Kreienbühl präsidiert die Kirchenpflege der Reformierten Kirche Grüningen. Bild: zvg
Gesellschaftliche Veränderungen, Negativschlagzeilen und Krisen wie Krieg und Klima zwingen auch die Kirchen, sich neu zu positionieren. Welche Aufgaben hat die Kirche heute in der Gesellschaft und wie kann sie die Menschen wieder für sich gewinnen? Ein beinahe schon philosophisches Gespräch mit dem Präsidenten der Kirchenpflege.

Die Katholische Kirche hat jüngst wieder für negative Schlagzeilen gesorgt. Hat das auch die Reformierte Kirche zu spüren bekommen?

Markus Kreienbühl: Die Menschen sind müde und wollen diese negativen Botschaften nicht mehr hören. Sie sind einer der Gründe für Kirchenaustritte. Natürlich ist die Katholische Kirche stärker betroffen als die Reformierte. Doch es fehlt auch an Inhalten. Es reicht heute nicht mehr, mit dem «grünen Güggel» auf Ökologiethemen aufzuspringen, wie das die Landeskirche macht. Man vergisst dabei, was der Kern dieser Organisation ist. Kirche ist Gemeinschaft und es ist nicht an der Institution Kirche, sich in den politischen Prozess einzumischen. Wir sind in einer Identitätskrise, an der wir arbeiten müssen.

Ganz konkret: Gab es Austritte?

Auch bei uns gibt es immer wieder Austritte. In Grüningen hat die Kirche ungefähr 1600 Mitglieder, das sind rund 40 Prozent der Grüninger Bevölkerung. Es ist ein Thema, aber sicher nicht so akut wie in der Gesamtheit der Schweiz. Eigentlich leben wir hier in Grüningen noch ein Stück weit in einer heilen Welt.

Die Gesellschaft ist im Wandel. Welchen Stellenwert hat da die Kirche noch?

Die gesellschaftlichen Veränderungen lassen sich tatsächlich feststellen. In den 1970er-Jahren war die Hälfte der Schweizer Bevölkerung reformiert, heute sind es noch 20 Prozent. Die einzige Gemeinschaft, die wirklich zunimmt, sind die Konfessionslosen und nicht die Freikirchen, die mit anderen christlichen Gemeinschaften nur rund fünf Prozent ausmachen. Die Menschen haben vielleicht die Fähigkeit verloren, zu glauben. Man neigt dazu, sich selbst zu überschätzen, wenn man nur an die eigene Individualität und an die eigenen Möglichkeiten glaubt, etwas zu bewirken.

Früher hat man viel mehr in der Gemeinschaft gelebt, und das geht heute verloren. Eine Frau hat mir kürzlich gesagt, sie zahle in keinem Club so hohe Mitgliederbeiträge wie in der Kirche. Wie kann man die Kirche mit einem Club vergleichen! Hier hat man den Kern der Sache nicht ganz verstanden. Gerade in Grüningen macht die Kirche mit unserem Pfarrer Ruedi Steinmann, der unzählige Gespräche führt, sehr viel für Familien, kranke und ältere Menschen. Die Kirche wirkt hier wohlwollend in das grosse Ganze hinein. Kirche muss nicht Schlagzeilen machen, sondern ein Ort des Rückzugs und der Besinnung sein. Das geht heute oft verloren. Für diejenigen, welche die Rückbesinnung wiederentdecken, kann diese im Gewühl des Alltags sinnstiftend sein.

Die neue Kirchenpflege ist u. a. angetreten, um sich zu öffnen und zu zeigen, dass Kirche Gemeinschaft ist. Wie will sie das erreichen?

Mit Initiativen wie die der Solidarität, wo wir z. B. während der Pandemie Essensgutscheine abgegeben haben. Oder mit Projekten wie der «Zäller Wiehnacht», bei dem es um das gemeinsame Gestalten ging, in diesem Fall zusammen mit der Viva Kirche. Das Projekt hatte eine Strahlkraft ins ganze Zürcher Oberland. Wir haben gemerkt, dass sich Menschen am ehesten dort einbringen, wo sie Talente haben und etwas gut können. Sei das beim Singen, beim Sport oder eben beim Theaterspielen. Aber vor allem dort, wo man sich kennt. Sich kennen schafft Vertrauen und Vertrauen ist Gemeinschaft.

Wir sind auch dabei, die Digitalisierung und die Kommunikation aufzuarbeiten und zu professionalisieren. Wie wollen wir heute den Jugendlichen die Botschaft des Evangeliums vermitteln? Es ist gar nicht so einfach, sie in ihrer Gefühlswelt zu erreichen.

Hängt das nicht stark vom Pfarrer ab?

Die Persönlichkeit des Pfarrers ist ein Aspekt. Man muss aber auch die Wellenlänge finden. Ruedi Steinmann ist ein sehr offener und freiheitlich denkender Mensch. Es gelingt ihm immer wieder, die Konfirmanden positiv zu erreichen.

In einer schnelllebigen Welt das Evangelium zu vermitteln, ist eine Herausforderung. Wir werden uns erst in dem Moment bewusst, was Glaube heisst, wenn uns das Leben einholt. Wir gehen durchs Leben mit Stress und Zeitmangel, als hätten wir ein zweites im Kofferraum. Das ist aber nicht so. Erst wenn wir uns dessen bewusst werden, entdecken wir die Kraft wieder, die im Glauben an das Gute im Leben steckt. Es geht um Dankbarkeit für das, was ist, für das existenzielle Leben. Dies zu kommunizieren, ist nicht einfach. Wir sind heute darauf gedrillt, alles mit unserem Verstand zu verstehen. Es geht aber um Erlebnisse, um Mitgefühl und das, was in unserer Kirche passiert.

«Die einzige Gemeinschaft, die wirklich zunimmt, sind die Konfessionslosen.»
Markus Kreienbühl

Dafür hat die Kirchenpflege u. a. einen Flohmarkt aufgezogen und diesen Sommer ein Kino in der Kirche organisiert. Gehört das zu den Aufgaben der Kirche?

Das ist eine berechtigte Frage. Doch ich gehe gar nicht so weit, dass ich mir überlege, ob das richtig oder falsch ist. Wir probieren. Es geht immer um Gemeinschaft, Zusammentreffen. So war auch der Kino- Anlass ein konfessionsübergreifender Anlass. Wir müssen offen sein für Neues. Es nützt nichts, wenn an einem Sonntag fünf Leute in der Kirche sitzen, der Pfarrer viel Aufwand in der Vorbereitung hat und es am Schluss niemand hört. Heute findet Kirche vielleicht mehr auf der Strasse statt als am Sonntagmorgen im Gottesdienst. Wir haben mit der «Zäller Wiehnacht» und der Filmvorführung gezeigt, dass man die Kirche auch anders nutzen kann für Begegnungen.

Das wäre früher natürlich ein Sakrileg gewesen…

Absolut! Doch ich bin mir nicht sicher, ob wir hier Gott richtig verstehen. Es geht ja um Werte, die Identität stiften. Wenn wir unsere Werte nicht verlieren wollen, müssen wir sie gemeinsam pflegen. Jeder Weg, der hilft, diesem Ziel näher zu kommen, scheint mir ein sinnvoller Weg zu sein. Nur wer wertschätzen kann, kann auch Wert schöpfen.

Schlecht besuchte Gottesdienste, leere Kirchen – Braucht es wirklich noch jeden Sonntag eine Predigt oder würde man sich nicht besser mit anderen Kirchgemeinden zusammenschliessen?

Das Ganze hat einen Rhythmus und diesen gilt es zu bewahren, auch wenn dann vielleicht mal weniger Menschen in der Kirche sind. Der Glaube hat sich in den letzten 2000 Jahren, trotz Niedergang des Römischen Reichs, der Pest und Katastrophen, durchgesetzt. All die Menschen, die dem Glauben einen Rhythmus verleihen und ihre Kraft hineingeben, tun etwas Gutes. Man sollte aber nicht stur sein und auch andere Möglichkeiten anschauen, wie man das Evangelium platzieren kann. Als Kirchenpflege wollen wir den Mut aufbringen, Neues auszuprobieren. Auch betreffend Laienpredigten müssen wir uns überlegen, ob das in Zukunft vielleicht eine Option ist, weil auch immer weniger Menschen Theologie studieren.

Das heisst, es wird immer weniger Pfarrer geben?

Die Zahl nimmt ab und wir müssen uns überlegen, wie wir damit umgehen. Das müssen wir jetzt angehen und nicht, wenn es dann tatsächlich so weit ist. Wieso also nicht ab und zu eine Laienpredigt.

«Sich kennen schafft Vertrauen und Vertrauen ist Gemeinschaft.»

Und doch werden, gerade im städtischen Umfeld, immer häufiger Kirchen umgenutzt oder geschlossen. Wie steht die Kirchenpflege dazu?

Das Gebäude Kirche hat auch einen symbolischen Charakter als ein Ort des Rückzugs und der Besinnung. Wenn ich mir den Vergleich mit dem Gesundheitswesen erlauben darf: Menschen werden nicht gesünder durch den Beton, den wir in den Bau von Spitälern stecken. Wenn wir die Gemeinschaft in den Vordergrund stellen, kann man die Räumlichkeiten auch für etwas nutzen, das den Menschen dient. Dazu kommt, dass viele solcher Gebäude im Unterhalt sehr teuer sind. Dann muss man sich fragen, ob man diese nur für den ursprünglichen Zweck erhalten will.

Man könnte, wie in Thalwil, den Kirchturm als öffentlichen Aussichtspunkt nutzen.

Absolut. Das macht auch die St. Peterskirche in Zürich, von deren Turm aus man eine fantastische Sicht über die Stadt hat. Wir haben darüber geredet, etwas Ähnliches bei unseren Räumlichkeiten in Grüningen zu realisieren, aber das ist schwierig. Wir stellen z. B. den Kirchgemeindesaal für verschiedene kulturelle Anlässe zur Verfügung. Attraktiv sind auch die anderen Räumlichkeiten im Schloss und der Schlosshof. Vielleicht könnte man da aber noch mehr machen. Gerade in den Räumlichkeiten steckt noch sehr viel Potenzial.

«Nur wer wertschätzen kann, kann auch Wert schöpfen.»

Zum Schluss: Wie sieht das jetzt aus mit den hohen Mitgliederbeiträgen in diesem «Club», also den Kirchensteuern?

Wir stellen noch in diesem Jahr den Antrag für das Budget 2024, die Kirchensteuer um zwei Punkte von 14 auf 12 Prozent zu senken. Unsere Kirchgemeinde steht heute sehr gut da und ist finanziell stärker geworden, auch durch das Wachstum der Gemeinde. Jetzt aber steigt der Druck bei der Bevölkerung durch höhere Preise, Prämien und Zinsen. Da wollen wir jetzt insbesondere die Familien entlasten. Wenn wir damit auch noch Kirchenaustritte vermeiden können, ist das ein zusätzlicher Benefit.

Martina Gradmann